C. Simon: An der Peripherie des nazifizierten deutschen Hochschulsystems

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Titel
An der Peripherie des nazifizierten deutschen Hochschulsystems. Zur Geschichte der Universität Basel 1933–1945


Autor(en)
Simon, Christian
Reihe
Studien zur Geschichte der Wissenschaften in Basel. Neue Folge 11
Erschienen
Basel 2022: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
878 S.
Preis
CHF 98.00
von
Georg Kreis, Europainstitut der Universität Basel

Wie reagierte die Universität Basel auf die Nazifizierung des deutschen Hochschulsystems? Die Frage geht davon aus, dass die Veränderungen der politischen Verhältnisse im für Basel wichtigen Nachbarland eine Herausforderung bedeuteten und sich die Frage stellte, in welchem Mass die übliche universitäre Kooperation weitergepflegt oder eingefroren werden sollte. Die Fragestellung ist indes anspruchsvoller als es den Anschein macht, und sie wird über die ausgelösten Erwartungen hinaus angegangen und abgehandelt. Es wird über weite Strecken ein kenntnisreicher Überblick über die Entwicklung des Wissenschaftsverständnisses in der erfassten Zeit gegeben, und es wird insbesondere aufgezeigt, wie die Korporation der Professorenschaft gleichsam mit sich selbst umging. Das Verhalten war in hohem Mass von der angenommenen und tatsächlichen Abhängigkeit bestimmt, in der man sich einer peripheren Lage gegenüber den deutschen Wissenschaftszentren befand beziehungsweise fühlte. Obwohl im Untertitel die klassischen Randdaten 1933–1945 angegeben werden, setzen die Abklärungen in manchen Fällen sogar vor dem Ersten Weltkrieg ein und gehen über den Zweiten Weltkrieg hinaus.

Vergleichsweise einfach zu erfassen waren für den Autor die Basler Reaktionen etwa auf die Einladung zum Heidelberger Universitätsjubiläum von 1936: Während auf Seiten der Universität eine Teilnahme trotz der zu erwartenden Instrumentalisierung der Feier durch den nationalsozialistischen Machtapparat eine den traditionellen Gepflogenheiten verpflichte Selbstverständlichkeit war oder gewesen wäre, sprach sich die von der Linken dominierte politische Oberaufsicht dagegen aus und untersagte diese Teilnahme (S. 107–123). Viel anspruchsvoller war und ist die Abklärung der verschiedenen, im Zeitraum von 1933–1945 eingenommenen Haltungen des Lehrkörpers und der Studierenden. Selbstverständlich wird auch darauf geachtet, inwiefern sich die Haltungen in der Zeit von 1933–1945 verändert haben, von der anfänglichen Verkennung des verbrecherischen Charakters des Regimes bis hin zu den «mutigeren» Distanzierungen gegen Ende des Kriegs.

Erklärtes Ziel der Grossuntersuchung ist die Abklärung der zwischen der deutschschweizerischen Peripherie und den verschiedenen deutschen Zentren durch Freundschaften, wissenschaftliche Kommunikationswege und Bildungsverbundenheit gepflegten Beziehungen (S. 44). Zu unterscheiden ist, ob sich diese Beziehungen wie in den meisten Fällen ohne inhaltliche Konzessionen «bloss» auf Tagungsbeteiligungen und Publikationen in deutschen Verlagen beschränkt haben oder ob es dabei auch zu inhaltlichen Übereinstimmungen und Kooperationen gekommen ist. Trotz ihrer Breite erheben diese Abklärungen keinen Anspruch auf Vollständigkeit und konzentrieren sich, den verfügbaren Quellen entsprechend, auf Exemplarisches.

Kernstück der Abklärungen (S. 139–728) bilden die nach Fakultäten und Fächern in historischer Abfolge, also von der Theologie bis zu den Naturwissenschaften, zusammengetragenen Befunde zum Verhalten einzelner Universitätsangehöriger, die, mit Ausnahme der Slawistin Elsa Mahler, alle männlich waren. Die breit angelegte, systematisch durchgeführte und faktendichte Untersuchung zeigt erwartungsgemäss beides, Reaktionen der Anpassung wie Reaktionen des Widerstands in vielen Schattierungen. Abgesehen vom Interesse für die Frage, wer sich wann wie positioniert hat, kann man sich bei der Lektüre auch fragen, ob bestimmte Fächer mehr oder weniger anfällig für eine dem Nationalsozialismus entgegenkommende Haltung waren. Es könnte kein Zufall gewesen sein, dass die entschiedenste Ablehnung («Resistenz» in der Begrifflichkeit des Autors, S. 45, 53) bei den Theologen festgestellt werden konnte. Sieht man von der Vererbungsforschung ab, gab es alles in allem aber keine fachlichen Prädispositionen für NS-Nähe, selbst bei den Germanisten nicht. Bei den Juristen lassen sich Distanz und Nähe in grosser Spannweite feststellen.

Für das Fach Geschichte, das allerdings nicht eingehender berücksichtigt wird als andere Fächer wie zum Beispiel die Altertumswissenschaften oder die Ethnologie, wird mit der erstmaligen Auswertung eines substanziellen Nachlasses der Werdegang von Werner Kaegi präsentiert (S. 521–579). Kaegi war, wie andere, anfänglich gegenüber den Erneuerungsangeboten von Faschismus und Frontismus nicht immun, und, wie andere auch, fixiert auf eine links verortete Gefahr. Er fand dann aber seine Position als Verteidiger des freien, individualistischen humanistischen Geistes gegen den Nationalsozialismus.

Der andere Basler Grosshistoriker dieser Zeit, Edgar Bonjour, tritt in Simons Abklärungen nur punktuell in Erscheinung.

Im Kapitel zur juristischen Fakultät findet sich auch ein Abschnitt zum Juristen, Wehrwissenschaftler und Offizier Gustav Däniker, der mit seiner NS-freundlichen Einstellung gesamtschweizerische Bekanntheit erlangte. Seine politische Nähe zum Frontismus bildete – bezeichnenderweise – kein Hindernis bei seiner Ernennung zum Ehrendozenten für Militärwissenschaft 1938/39. Der Versuch, ihm 1941 nach dem Bekanntwerden seiner nazifreundlichen Denkschrift den Lehrauftrag zu entziehen, scheiterte – wiederum bezeichnenderweise – an den rechtlichen Voraussetzungen und konnte dann aber trotz gleich gebliebener, schwieriger Rechtslage bei Kriegsende schliesslich doch verwirklicht werden. (S. 244–251).

Die Abklärungen kommen zum wenig erwarteten Schluss, dass die am stärksten verbreitete Haltung die der Nichtreaktion war. Im Gegensatz zu heute tendenziell wohl bestehenden Erwartungen äusserte sich die Universität nicht dezidiert zum Nationalsozialismus und erbrachte auch keine energische Unterstützung seiner Opfer. Die Studie gibt über die Ausgangsfrage hinaus Einblick in das Funktionieren einer bürgerlichen Universität. Simon deutet die Universität einleuchtend als eine Körperschaft, die vor allem nach Regeln der Kollegialität und der Einhaltung akademischer Regeln funktionierte und sich von der Vorstellung einer politikfreien Wissenschaft leiten liess. Als übergreifende Schlussfolgerungen präsentiert Simon drei Thesen (S. 753 f.): Erstens, dass universitäre Gremien gar nicht fähig waren (und sind?), politische oder weltanschauliche Verantwortung in Themenbereichen zu übernehmen, die über den traditionellen Rahmen hinausgehen. Zweitens, dass die akademische Integration ein mühsam errungenes Ergebnis war, das nicht durch das Aufgreifen unpassender Themen gefährdet werden durfte. Und drittens, dass die Betonung des Unpolitischen in einen Gegensatz zum lokalen Kontext der Universität (Regierung, Parlament, politische Öffentlichkeit) geriet, der ein engagierteres Einstehen für die durch den Nationalsozialismus gefährdeten Werte erwartete. Diese Differenz zwischen der bürgerlich dominierten Universität und der staatlichen Trägerschaft mit linker Mehrheit nahm nach 1935 zwar zu, sie beschränkte sich aber auf Einzelfälle und führte nie zu sich zuspitzenden Konflikten. Der Autor kommt zum Schluss, dass die Basler Universitätsgeschichte von 1933 bis 1945 weitgehend unspektakulär verlaufen sei. Das vielleicht wirklich Spektakuläre habe in der meist friedlich-freundlichen Koexistenz zwischen der freiheitlichen, schweizerischen Peripherie und den deutschen Zentren, die sich den Erwartungen eines totalitären Regimes unterwarfen, bestanden. Dem Historiker Simon war es dabei wichtiger, statt sich zum Ankläger zu machen, Erklärungen dafür zu finden, warum «nach bürgerlichen Massstäben anständige, gutwillige und in ihrem Fach zuweilen herausragende Fachleute mit hoher Intelligenz» mit Partnern kooperierten, die sich in den Dienst eines verbrecherischen Regimes stellten (S. 760).

Zitierweise:
Kreis, Georg: Rezension zu: Simon, Christian: An der Peripherie des nazifizierten deutschen Hochschulsystems. Zur Geschichte der Universität Basel 1933–1945, Basel 2022. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 73(1), 2023, S. 85-87. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00120>.

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